Rechtsphilosophie

Rechtsphilosophie
Rechts|philosophie,
 
Wissenschaftszweig, der sowohl der Philosophie als auch der Rechtswissenschaft (so institutionell in Deutschland) und der Politologie zugeordnet werden kann und sich mit Ursprung, Zweck, Struktur, Legitimation, gesellschaftliche Interdependenz und Geltung des Rechts befasst. Von der Rechtsgeschichte und der Rechtssoziologie unterscheidet sich die Rechtsphilosophie zum einen dadurch, dass sie sich in ihrem beschreibenden Teil nicht auf das historische Auftreten des Rechts oder sein Verhältnis zur Gesellschaft beschränkt, sondern alle nur erdenklichen Erscheinungsformen und Bezüge berücksichtigt, zum anderen aber fundamentaler dadurch, dass - wie bei der Ethik bezüglich moralischer Normen - im Hinblick auf Rechtsnormen Wertungen und Präskriptionen diskutiert werden, die diese stützen können. Die Rechtsphilosophie ist demnach wie die Ethik nicht nur eine deskriptiv-theoretische Wissenschaft der Praxis, sondern auch eine abstrakt-praktische Wissenschaft. Sie sucht auf diese Weise die Brücke zur konkret-praktischen Rechtspolitik und Rechtsdogmatik zu schlagen.
 
Hauptprobleme:
 
Zentrales Problem der Rechtsphilosophie ist die Frage, wie Normen gerechtfertigt werden können (»Begründungsproblem«). Dabei wird ein Rekurs auf göttliche Gebote, Naturgesetze oder überempirische Werte und Prinzipien (Naturrecht), die menschliche Vernunft (Vernunftrecht), Nutzenerwägungen (Utilitarismus), menschliche Interessen (Subjektivismus), fiktive oder reale Vereinbarungen (Vertragstheorien) oder rationale Diskursbedingungen (Diskurstheorie) propagiert. Das »Geltungsproblem« schließt an das Begründungsproblem an und zerfällt in zwei Unterprobleme: Bezüglich der Sollgeltung stellt sich die Frage, warum und wann der Einzelne bestimmten Verhaltensanforderungen des Rechts folgen soll. Dabei ist umstritten, ob bei positiven Gesetzen die Einhaltung formaler Rechtssetzungsbedingungen genügt (Rechtspositivismus) oder darüber hinaus auch inhaltliche Begründungsanforderungen gestellt werden müssen, so etwa die Bedingung, dass der Gesetzgeber wenigstens die Absicht hatte, gerechtes Recht zu schaffen (»radbruchsche Formel«), also sich - je nach Standpunkt - an eine der oben erwähnten Begründungsformen anzuschließen. Daneben wird im Rahmen der Wirksamkeitsgeltung untersucht, ob die entsprechenden Normen tatsächlich befolgt werden (Verhaltensgeltung) beziehungsweise bei Normverletzungen entsprechende Sanktionen erfolgen (Sanktionsgeltung). Beide Unterprobleme der Geltungsfrage stehen insofern in Zusammenhang, als verschiedentlich eine Einschränkung oder gar Aufhebung der Sollgeltung durch die Wirksamkeitsgeltung angenommen wird. Auch beim »Gerechtigkeitsproblem« bestehen Zusammenhänge zum Begründungsproblem. Allerdings liegt der Akzent auf der inhaltlichen Orientierung der Norm bezüglich einer gerechten Verteilung. Gerechtigkeitsaspekte können sein: Stand, Leistung, Chance, Verdienst, Bedürfnis, Interesse, Gleichheit. Beim »Strukturproblem« schließlich ist umstritten, ob das Recht eine axiomatisch-hierarchische (Natur- und Vernunftrecht), eine geltungshierarchische (H. Kelsen), eine zweistufig regelhafte (Herbert Lionel Adolphus Hart, * 1907, ✝ 1993) oder eine topisch-monadische (Theodor Viehweg, * 1907, ✝ 1989) Struktur aufweist, ob es notwendig oder nur fakultativ Sanktionen statuiert und wer (nur staatliche Stellen oder auch der Bürger) der Adressat seiner Normen ist.
 
 
Schon in der antiken Philosophie waren zentrale rechtsphilosophische Probleme präsent. Das Begründungsproblem fand seinen Niederschlag in verschieden fundierten und ausgestalteten Naturrechtslehren, die im Rahmen der stoischen Philosophie zum zentralen rechtsphilosophischen Paradigma wurden. Bei Augustinus erfolgte deren Verschmelzung mit christlichen Dogmen zu einem christlichen Naturrecht, das das rechtsphilosophische Denken des Abendlandes für mehr als ein Jahrtausend prägte. Neuzeit und Aufklärung brachten neben einer Herauslösung des Naturrechts aus diesem System dessen zunehmende Säkularisierung und Rationalisierung. Im Vernunftrecht des 17. und 18. Jahrhunderts (H. Grotius, S. Pufendorf, C. Thomasius, C. Wolff) erreichte das rechtsphilosophische Denken einen ersten Höhepunkt. Mit Verbreitung der transzendentalen beziehungsweise idealistische Philosophie kam das rechtsphilosophische Denken bei I. Kant, J. G. Fichte und besonders G. W. F. Hegel auch zu einem theologisch-philosophischen Kulminationspunkt. Nachdem schon Kant in seiner »Metaphysik der Sitten« nicht mehr von »Naturrecht« gesprochen hatte, wurde in dieser Zeit der Terminus »Philosophie des Rechts« oder »Rechtsphilosophie« gebräuchlich. An der Wende zum 19. Jahrhundert entstand aber gleichzeitig mit dem »Historismus« und der »historischen Rechtsschule« eine wirkungsmächtige Gegenbewegung (F. C. von Savigny), die die metaphysisch-rationalistische Rechtsphilosophie ablehnte und das Recht als geschichtliches Produkt ansah. In der Mitte des 19. Jahrhunderts traten Rechtspositivismus, allgemeine Rechtslehre und Begriffsjurisprudenz in den Vordergrund. Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert erlebte die Rechtsphilosophie in Deutschland im Zuge des Neukantianismus (Rudolf Stammler, * 1856, ✝ 1938) und Neuhegelianismus (Julius Binder, * 1870, ✝ 1939) eine Renaissance. Im Anschluss an die südwestdeutsch-neukantianische Wertphilosophie (H. Rickert, E. Lask) und das Denken Max Webers entwickelte G. Radbruch eine wertrelativistische Rechtsphilosophie. Carl Schmitt propagierte ein dezisionistisches Denken. H. Kelsen schuf eine positivistisch-normlogische »reine Rechtslehre«. Auch ein katholisch-thomistisches Naturrecht lebte fort (V. Cathrein). Eine kurze Renaissance des Naturrechts in Deutschland nach 1945 als Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen wurde bald durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Strömungen abgelöst: Rezeption der analytisch-positivistischen Rechtstheorie Harts, eine Ontologie der Relationen (A. Kaufmann) und eine Systemtheorie des Rechts (N. Luhmann; Gunther Teubner, * 1944).
 
 
I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Riga 1785, Nachdr. 1984);
 V. Cathrein: Recht, Naturrecht u. positives Recht (21909, Nachdr. 1964);
 J. G. Fichte: Grundl. des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (21922, Nachdr. 1979);
 R. Stammler: Lb. der R. (31928, Nachdr. 1970);
 A. Verdross: Abendländ. R. (Wien 21963);
 H. Ryffel: Grundprobleme der Rechts- u. Staatsphilosophie (1969);
 H. L. A. Hart: Der Begriff des Rechts (a. d. Engl., 1973);
 G. Radbruch: R. (81973);
 T. Viehweg: Topik u. Jurisprudenz (51974);
 K. Larenz: Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik (1979);
 N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur u. Semantik, auf mehrere Bde. ber. (1980 ff.);
 G. W. F. Hegel: Werke, Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Neuausg. 1986);
 G. Teubner: Recht als autopoiet. System (1989);
 
Rechts- u. Sozialphilosophie in Dtl. heute, hg. v. R. Alexy u. a. (1991);
 K. Adomeit: Rechts- u. Staatsphilosophie, 2 Bde. (1-21992-95);
 K. Seelmann: R. (1994);
 M. Kaufmann: R. (1996).

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Rẹchts|phi|lo|so|phie, die: Zweig der Philosophie, der sich mit dem Recht befasst.

Universal-Lexikon. 2012.

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